Scham ist ein wichtiges und es ist ein schreckliches Gefühl!
Gleich vorweg ein Vorschlag an dich:
Am Ende dieses Textes machst du Scham entweder zu deiner Freundin, oder du machst Schluss mit ihr!
Vielleicht ein gewagter Vorschlag, doch ich möchte dir erklären, wie ich darauf komme.
Scham ist, im Gegensatz zu toxischer Scham, durchaus sinnvoll für unser Leben. Doch wann ist Scham toxisch und wann ist sie ein Gefühl wie jedes andere auch? Denn grundsätzlich sollten Gefühle nicht in positiv oder negativ aufgeteilt werden. Sie können Antreiber und Wegweiser für uns sein, wenn wir lernen sie zu regulieren.
Wozu ist Scham also gut?
1. Scham beschützt uns vor Gefahren
Stell dir vor, du bist drei Jahre alt und spielst mit einem Ball. Plötzlich rollt er auf die Straße und natürlich willst du hinterherlaufen und ihn holen. Du hörst nur noch ein lautes, durchdringendes “Stopp“ und kannst gar nicht anders als stehen zu bleiben. Instinktiv weißt du, es stimmt etwas nicht und du schämst dich. Mit all den körperlichen Symptomen, die dazu gehören. Du erstarrst, dein Atem stockt, …
Wie geht es weiter? Wenn es “gut” läuft, kommt Mama oder Papa und erklärt aufgeregt etwas, bei dem du die Worte noch gar nicht verstehst und sagt dann: “Alles ist gut, jetzt können wir den Ball holen!“ Dein ganzer Körper entspannt sich wieder und du spielst weiter mit deinem Ball.
2. Scham hilft uns ein Teil der Gemeinschaft zu sein
Ein funktionales Schamgefühl zeigt uns, was im Umgang mit anderen angebracht ist und was nicht. Da wir Menschen Rudeltiere sind und evolutionär allein nicht überlebt hätten, vermeiden wir noch heute erst einmal alles, was uns aus der Gemeinschaft werfen könnte. Scham ist mit dieser Angst eng gekoppelt.
Spätestens im Schulalter, wenn wir in anderen Sozialkontexten unterwegs sind als unserer Herkunftsfamilie, werden uns Dinge peinlich. Rülpsen ist vielleicht als Baby noch niedlich, aber meistens nicht mehr in der Schulklasse. Wir bekommen Ärger mit der Lehrerin, weil wir einem anderen Kind wehgetan haben und schämen uns, wieder mit all den körperlichen Reaktionen, die zu Scham gehören.
Sich zu schämen ist also vor allem ein Regulationsmechanismus.
Wir brauchen eine Auflösung
Scham lässt es uns körperlich erstarren. Um aus diesem Zustand wieder heraus zu kommen, brauchen wir unbedingt jemanden, der uns sagt “Ja, da ist gerade etwas schief gelaufen und ich habe dich trotzdem lieb!“ Wir müssen wissen, dass wir als Person ok sind. Je nach Alter durch eine Umarmung und/ oder durch Worte. Sonst bleibt der körperliche Alarmzustand, zumindest teilweise, erhalten und es bildet sich der Gedanke: „Ich bin falsch!“
Wir fangen an, im Kern an uns zu zweifeln.
Wie Scham toxisch wird
Das Problem ist, dass die meisten von uns das Beispiel von oben anders erlebt haben.
Nachdem der Ball auf die Straße gerollt ist und das laute “Stopp” zu hören war, folgten Sätze wie:
- Warum kannst du nicht einmal aufpassen?
- Wie oft muss ich es dir noch sagen?
- Immer wieder dasselbe mit dir!
- Das solltest du aber langsam können!
- Stell dich nicht so an!
- …
Wir wurden mit unserem Schamgefühl allein gelassen und im schlimmsten Fall, folgte noch Liebesentzug oder Bestrafung.
Wenn wir solche Situationen immer wieder erleben, negative Generalisierungen über uns hören oder von uns Fähigkeiten abverlangt werden, die wir einfach noch nicht leisten können, dann wird Scham (im Erwachsenenalter) toxisch.
Toxische Scham verhindert Freude und Beziehung
Warum hat dich dieser Artikel angesprochen?
Ich gehe davon aus, dass du dieses Gefühl der toxischen Scham kennst und darunter leidest und zwar hauptsächlich, wenn du unter Menschen bist. Wie oben beschrieben, ist es ein Gefühl, welches stark durch unser soziales Umfeld geprägt ist. Ärgern können wir uns zum Beispiel auch über das Wetter, oder wir freuen uns über den Sonnenuntergang. Scham ist immer verbunden mit Menschen, selbst wenn sie sich bei manchen generalisiert und zu einem Grundgefühl wird.
Wenn du dich oft schämst, können dadurch im Kontakt mit Menschen viele Schwierigkeiten entstehen. Vielleicht fällt es dir schwer, oder du vermeidest:
- Deine Meinung oder Bedürfnisse zu äußern
- Überhaupt zu sprechen
- Grenzen zu setzen
- Nahe Beziehungen zuzulassen und dich zu öffnen
- Dinge zu tun, die dir gut tun, weil du dich sorgst, was die anderen denken könnten
- …
Das Gegenmittel ist Verbindung!
Oft bekommen Freunde, Kollegen oder andere Menschen um uns herum nicht mit, wenn wir uns schämen. Außer du wirst wie ich sehr schnell rot. Bei vielen ist das jedoch nicht so sichtbar oder erst, wenn etwas wirklich äußerst Peinliches passiert ist. Das bedeutet aber nicht, dass die Scham nicht schon bei Kleinigkeiten mit dabei ist.
Während du Situationen vermeidest und andere Menschen auf Abstand hältst, hat dein Umfeld keine Ahnung, wie es dir geht und kann dich auch nicht dabei unterstützen, die Situation aufzulösen.
Doch auch als Erwachsene ist genau das möglich: Die neue Erfahrung zu machen, dass dich jemand mag und mit dir in Verbindung bleiben will, selbst wenn du etwas falsch gemacht hast!
Der einzige, wirklich wirksame Weg ist also, dich mit deiner Scham zu zeigen. In meinen therapeutischen Gruppen erlebe ich das immer wieder und es berührt mein Herz, wenn eine/r sagt: “Ich schäme mich gerade, weil …“ Und jemand anderes sagt, wie gut sie oder er das kennt.
… Und dann öffnet sich ein Raum, in dem wir spüren können, dass wir nicht allein sind.
Die meisten von uns kennen das Gefühl, sich für irgendetwas zu schämen. Wir leben in einer Gesellschaft, die sozial und politisch von Beschämung geprägt ist und auf allen Ebenen stattfindet.
Nichts ist heilsamer und verbindender, als zu hören und zu spüren, dass uns jemand versteht und wir nicht allein sind mit unserem Gefühl.
Es muss nur eine/r den Anfang machen.
Was machst du nun also mit deiner Scham?
Vielleicht konnte ich dir mit diesem Artikel eine Idee davon geben, dass es mehrere Formen von Scham gibt und sie deswegen sowohl einen Freundschaftsantrag als auch die Scheidungspapiere bekommen sollte ;-).
Es ist gut Scham empfinden zu können, das macht dich zu einem sozialen Wesen, das Teil der Gesellschaft sein kann. Wer das nicht kann, ist meist entweder im Knast oder in der Psychiatrie, wie eine Kollegin und Freundin von mir zu sagen pflegt.
Und für den Teil, bei dem deine Vergangenheit anklopft und dich erstarren lässt, braucht es Mut. Mut, dich zu zeigen in deiner Verletzlichkeit und wer weiß, vielleicht hilfst du damit auch anderen ein Stückchen zu heilen.